Der Freigeist

Sonntag, der 22. März im Lockdown-Gebiet Südtirol. Wie fühlt sich das an? Teil 5

Meine Freunde und ich können den Blick nicht von ihm lassen. Der Gartner Franz steht wie ein Druide am offenen Feuer, vor ihm ein dampfender Topf, in dem vier grüne gefüllte Flaschen stecken. Er schenkt vier Tassen auf, dann noch einmal. Während Franz uns nach und nach alle mit dem Gebräu versorgt, genauer gesagt mit seinem »Ochsenblut«, erzählt ein Freund aus München, dass er seinen Patienten in der Praxis aus Hygienegründen mittlerweile nicht mehr die Hände schüttelt. Das Motto: »Höflich ohne Hände.« Alle lachen und blicken ungläubig, trinken weiter aus der klebrigen Tasse und rücken noch ein Stück enger zusammen. Gesundheit! Es ist ja auch erst Samstag, der 22. Februar.

Franz weiß es nicht, wir wissen es nicht, dass sich gerade in einem 370 Kilometer entfernten lombardischen Städtchen das Unheil zusammenbraut und der 87-Jährige zweieinhalb Wochen später zum letzten Mal mit der Gondel zur Arbeit fahren wird.

Hinauf auf den Klausberg. Es ist auch sein Berg.

Vor über 50 Jahren pilgerte der Gartner Franz zusammen mit dem Steger Johann durchs ganze Tal und warb für ein zukünftiges Skigebiet. Nächtelang überzeugten die beiden die Ahrntaler, Aktien zu zeichnen. Damals führte der Franz noch einen Malerbetrieb. Davon geblieben ist bis heute einer seiner Spitznamen: Moula. Später arbeitete er dann – das Vorhaben war schließlich geglückt – eine Zeit für die Liftgesellschaft. Und er entdeckte die Glocken für sich. Wie schließlich der Franz und seine Glocken auf den Klausberg gekommen sind, wie es dazu kam, dass er sommers wie winters die Gäste unterhielt und einmal ein Brandanschlag auf sein kleines »Gasthäuschen« verübt wurde, da gibt es freilich viele Geschichten. Und Versionen auch.

Ich habe Franz an einem dieser Tage kennengelernt, wie sie einem nur der Spätherbst schenken kann. Franz, rot-weiß kariertes Hemd, blauer Schurz, Seppel-Hut, sein Arbeitsgewand, war im vergangenen September auf den Berg gekommen, um von seinem Leben zu erzählen. Dort, wo er im Sommer unterhalb vom Klaussee für die Wanderer auf seinen Glocken spielte. Glockenspieler, das war sein zweiter Spitzname. Ein Murmeltier schaute vor der kleinen Hütte kurz aus seinem Bau und verschwand, bevor der Franz seine Glocken auf dem mit einem karierten Tischtuch bespannten Brett nach der immer gleichen Reihenfolge aufstellte. Dass es ihm gesundheitlich nicht ganz gut ging, ließ er sich nicht anmerken. Er spielte mit Verve »Hänschen klein«, das erste Lied, das er sich selbst beigebracht hatte und »Marina, Marina«. Für meine Spende (der Klingelbeutel stand da nicht als bloße Dekoration) bekam ich eine »Ricevutta«. Auf einen kleinen Holzscheit schrieb Franz mit krakeliger Schrift. »Für Verena.«

Das Schreiben war überhaupt seine Passion. Über 700 Leserbriefe hat er nach eigener Angabe verfasst. Zuhause hatte er sie in einem dicken Ordner aufbewahrt. Als er davon erzählte, strahlten seine Augen und er sagte: »Komm’ vorbei, dann zeige ich dir, was ich geschrieben habe.« Leider habe ich mir die Zeit dazu nicht genommen.

Am 19. März ist der Franz gestorben. Der Klausberg wird auch in Zukunft immer ein Stückchen nach ihm klingen.

Foto: Enno Kapitza


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Und die Tage vergehen, langsam und zäh und unheimlich schnell.