Ein ganzes Leben
Die längste Recherche, die ich je gemacht habe, war jene zur Geschichte der Pusterer Buben. An Sepp Forer erinnere ich mich in besonderer Weise; an seine höfliche und doch bestimmte Art, bei seiner Meinung zu bleiben, an die interessanten Gespräche bei ihm im Hotel oder in der Stube, an seine Liebe zu den Bienen und zur Jagd und an die Mamme, wie sie von ihrem Seppl erzählt hat. Ein Nachruf
Über den Tod von Josef Forer nachzudenken bringt einen zwangsläufig dazu, zu den Wurzeln zu gehen. Schließlich waren es seine Wurzeln, die ihn in seinem Leben angetrieben haben. Forer war einer der vier Pusterer Buben, also jener Männer, die in den 1960-er Jahren im Osten von Südtirol aktiv geworden sind und mit Sprengstoffanschlägen und anderen Aktionen in der Zeit der sogenannten Südtiroler Bombenjahre gegen die Diskriminierung der deutschsprachigen Bevölkerung ankämpften – letztendlich das Resultat der politischen Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Je nach Blickwinkel des Betrachters wurden die vier Pusterer Buben ganz unterschiedlich eingeordnet, als Freiheitskämpfer von den einen, als Terroristen von den anderen – und dazwischen gibt es ja auch noch den Begriff Attentäter.
Nun, da Forer im Alter von 84 Jahren in Ladis im Oberinntal gestorben ist, wird der Blick noch einmal frei auf einen besonderen Lebensweg. 1940 in Mühlen in Taufers als ältestes von drei Kindern geboren, war Forer die Hofübernahme beim Oberluckner sicher. Geschickt war er, besonders mit Holz vermochte er umzugehen, als wäre er ein gelernter Tischler. Und dann waren da die Bienen, die es ihm schon früh und ein ganzes Leben lang angetan hatten. Schon als junger Bub kümmerte er sich um seine Stöcke, die neben dem Hof im Garten standen. Sein Vater, so erzählte Josef Forer später sichtlich bewegt, sagte einmal zu ihm: „Ich hätte dich daheim schon gebraucht.” Aber er hat ihn ziehen lassen. Wie Eltern eben sind, sie merken wohl, wenn man ein Kind nicht aufhalten kann.
Was Josef Forer dazu brachte, sich aufzulehnen gegen das, was er als Unrecht empfand, lässt sich nicht an einer Episode festmachen. Da war die Sache mit dem Elektrizitätswerk im Dorf, für dessen Bau eine hiesige Gesellschaft bereits eine Baugenehmigung erhalten hatte; schlussendlich ging die Konzession an eine italienische Privatfirma. Mit den italienischen Arbeitern gerieten die Burschen aus dem Dorf öfter aneinander. Oder die Geschichte der 14 Pfunderer Buben, die in einer Augustnacht 1956 im Letterhäusl, der Arbeiterkantine von Pfunders, mit zwei italienischen Finanzbeamten gezecht hatten. Am nächsten Morgen war einer der Finanzer tot, und obwohl im Obduktionsbericht keine Fremdeinwirkung festgestellt wurde, kam es zum Prozess. Acht der 14 Männer wurden in erster Instanz zu hohen Haftstrafen verurteilt, in zweiter wurden diese noch verschärft. Ein Schlag in die Magengrube für Menschen wie Josef Forer.
Laut Pariser Abkommen war die deutsche Sprache der italienischen gleichgestellt, doch die Realität sah anders aus. Den Südtirolern blieb der Zugang zu staatlichen Stellen bei Post, Bahn und Polizei fast gänzlich verwehrt. Alleine 1958 gingen 7000 Südtiroler auf Stellensuche ins Ausland, die wenigsten kehrten zurück. Der Zustrom italienischer Zuwanderer wurde, so gilt es heute als historisch gesichert, von staatlicher Seite gelenkt. 4100 Volkswohnungen wurden zwischen Kriegsende und 1956 in der Provinz gebaut; nur sechs Prozent davon gingen an deutschsprachige Südtiroler.
Mit der Zeit wurde die Enttäuschung über diese Benachteiligung bei manchen zum Zorn. Josef Forer hätte als Hofältester ein sicheres Auskommen gehabt. „Doch”, so sagte er einmal, „es ging immer um die Sache.” Die Sache, also auf die Situation der deutschsprachigen Bevölkerung aufmerksam zu machen, begann zunächst harmlos. „Los von Rom” und „Selbstbestimmung” pinselte er mit einem Mitstreiter auf die Straße vor der Pfarrkirche. Außerdem machten sich die beiden einen Sport daraus, heimlich die Tiroler Fahne zu hissen. 1959 gingen sie einen Schritt weiter und malten einen neun mal elf Meter großen Tiroler Adler auf eine Felswand in der Nähe von Mühlen in Taufers.
Es waren politisch explosive Zeiten, es lag etwas in der Luft. In der Zwischenzeit hatte sich der Befreiungsausschuss Südtirol, kurz BAS, gegründet. Auch mit den Burschen in Mühlen nahm man Kontakt auf. Eine große Aktion war geplant. In der Nacht von Herz-Jesu-Sonntag auf Montag, 12. Juni 1961, krachten alleine im Raum Bozen 19 Strommasten zusammen, im ganzen Land waren es 37. Die Stromzufuhr für die Bozner Industriezone und zur norditalienischen Industrie: unterbrochen. Große Elektrizitätswerke: lahmgelegt. Was in diesen Stunden in Südtirol passierte, ging als Feuernacht in die Geschichte ein. Die Nacht, in der sich eine Gruppe von Südtirolern so heftig wie nie gegen die als Besatzer empfundenen Italiener wehrte. Im ganzen Land waren Männer in dieser Nacht unterwegs, um Sprengladungen anzubringen. Josef Forer war einer von ihnen.
Nach getaner Arbeit kam er um vier Uhr morgens heim, wusch sich das Sprengstoffpulver von den Händen und legte sich kurz ins Bett. Aber er spürte, dass er nicht bleiben konnte. Als die Carabinieri wenig später mit mehreren Fahrzeugen beim Oberluckner auftauchten, sahen sie nur noch, wie der damals 21-Jährige über das Feld in Richtung Wald verschwand. Es ist der Beginn eines Lebens auf dem Sprung. Zunächst versteckte sich Forer mit seinem Mitstreiter Siegfried Steger in Österreich. Kurze Zeit später kam der dritte Mann im Bunde, Heinrich Oberlechner, nach. Forers Familie daheim bekam die volle Härte der Gegenseite zu spüren: Allein bis Weihnachten hat es beim Oberluckner 30 Hausdurchsuchungen gegeben.
Dass dieses Weggehen so endgültig sein würde, konnte damals niemand ahnen. Im Exil in Österreich berieten die Burschen, wie es weitergehen sollte. Als sie von den Folterungen der nach der Feuernacht festgenommenen BAS-Leute hörten, war ihnen Verpflichtung und Ansporn zum Weitermachen. Sie beschlossen, in den Sommermonaten über die Berge zurück in die Heimat zu kommen, um Anschläge auf Masten zu verüben. Zwischen Ahornach und Gais richteten sie mehrere Bunker ein, wo sie sich verstecken konnten. Später kam noch ein weiterer Unterschlupf im Oberpustertal dazu. In einer eisigen Dezembernacht 1963 entkam Heinrich Oberleiter, der zunächst noch in Südtirol gelebt und agiert hatte, in letzter Sekunde der Verhaftung und schaffte es über die Grenze nach Österreich. Nun war das als Pusterer Buben bekannte Kleeblatt komplett.
Es war ein Leben unter höchster Anspannung. In der Zwischenzeit kam es vor dem Mailänder Schwurgericht zum sogenannten ersten Sprengstoffprozess, einem Mammutverfahren mit 91 Angeklagten, darunter auch Josef Forer, der in Abwesenheit zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt wurde.
Ein Anschlag auf die Kaserne in Sand in Taufers und auf den Stützpunkt der Finanzwache in Luttach, ein Zwischenfall mit einem Munitionslager, ein Anschlag auf einen mit Soldaten besetzten Jeep bei Percha: Längst war es nicht mehr bei Strommasten geblieben. Aus der Sicht der Pusterer Buben nur konsequent, die Politik im Land kam nicht voran. In Zeiten ohne Wärmebildkamera gelang den Männern immer wieder die Flucht vor den Carabinieri und dem Militär. Im September 1964 denkbar knapp. Als der Bergweiler Tesselberg oberhalb von Gais von einer Militäreinheit förmlich gestürmt wurde, kam es nur durch Glück nicht zur ganz großen Katastrophe. 1200 schwer bewaffnete Soldaten stürmten das Dorf auf der Suche nach den „terroristi”. Nachdem die Männer wohlbehalten zusammengefunden hatten, flüchteten sie in den darauffolgenden Tagen nach Osttirol. Auch in den Jahren danach entkamen sie mehrfach im letzten Moment, gewarnt von einheimischen Helfern.
Die vier Pusterer Buben setzten ihren Kampf, der die Selbstbestimmung Südtirols zum Ziel hatte, bis 1967 fort. Die Zeit dazwischen verbrachten sie, teils ausgestattet mit neuen Identitäten, an verschiedenen Orten. Als Österreich auf Druck Italiens Truppen an die Grenzen entsandte, gaben die Pusterer Buben ihren Kampf auf. Sie zogen sich in ein ziviles Leben zurück, das sie sich Stück für Stück aufbauten.
Die italienische Staatsanwaltschaft erhob in verschiedenen Prozessen Anklage gegen die Pusterer Buben. Das Strafmaß war in allen Fällen sehr hoch. Der für sie folgenreichste war aber der sogenannte Pustererprozess, der 1969 in Bologna stattfand. In zweiter Instanz wurden die Haftstrafen für die vier Pusterer Buben auf zweimal lebenslänglich und neun Jahre erhöht. Zu einer Auslieferung der Männer an Italien kam es nie.
Josef Forer verschlug es nach Ladis im Oberinntal, wo er sich mit seiner Frau Wilma eine bürgerliche Existenz und ein prächtiges Hotel aufbaute. Die Anfangsjahre waren geprägt von harter Arbeit. In einem Gespräch erzählte er einmal, wie er sein Kind in einer Kraxe auf dem Rücken trug und nebenher für die Gäste kochte. Dass sich die Pusterer Buben nie gemeinsam an den Tisch setzten, um ihre Erlebnisse zu Papier zu bringen, bedauerte Josef Forer. Es scheiterte nicht etwa an mangelnder Zeit oder an unterschiedlichen Wohnorten. Nach all der Zeit fand man nicht mehr zu einer gemeinsamen Sicht der Ereignisse. Es liegt wohl in der Natur der Sache, dass sich Menschen, die einmal für ein gemeinsames Anliegen brannten, unterschiedlich weiterentwickeln. In einer Sache waren sie sich jedoch einig: Sie hätten es unter denselben Bedingungen wieder getan.
Wenn man Sepp Forer viele Jahrzehnte später begegnete, traf man auf einen aufgeräumten Mann. Er vermittelte den Eindruck, dass er nicht mit seinem Schicksal haderte. Er hatte große Freude mit seiner Familie und kümmerte sich weiter um seine Bienen. Über seine Rolle in den Südtiroler Bombenjahren gab er Auskunft. Aber er suchte diesbezüglich nie das Rampenlicht. Oft wurde das Wort „Begnadigung” der vier Pusterer Buben in den Mund genommen. Als diese unter dem damaligen Staatspräsidenten Francesco Cossiga (1985-1992) zum ersten Mal in greifbarer Nähe war, lehnte Josef Forer ab. Ein Gnadengesuch zu unterzeichnen, kam für ihn nicht in Frage.
In die Heimat zurückzukehren war ihm somit nicht mehr möglich. Doch er blieb mit seiner Familie über die Grenzen hinweg verbunden. Seine Mutter Maria hoffte bis zuletzt, sie könne Josef noch einmal auf Südtiroler Boden in die Arme nehmen . Dann hätte alles seine Ordnung gehabt. Dazu kam es freilich nie. Der Kampf um die Heimat hat Josef Forer hart gemacht. Aber die Liebe zu Südtirol war ungebrochen. „Wenn mich jemand fragt, wo meine Heimat ist, dann sage ich Mühlen”, sagte er einmal. Forer, der zeitlebens ein religiöser Mensch war, hat sich mit den Konsequenzen seines Handelns auseinandergesetzt und seinen Frieden gefunden.