Mandorlatt oder vom kleinen Glück

Neulich war ich beim Götsch. Die Konditorei ist nichts weniger als eine Institution in Bruneck, eine besonders süße, um genau zu sein. Wie ich so durch die Reihen streifte, sah ich im Regal einen Torrone liegen. Da musste ich an den Stegener Markt denken, der nicht mehr so ist, wie er einmal war, und an meinen Großvater, den ich nie kennengelernt habe. Er starb kurz vor seinem 65. Geburtstag. Lange meinte ich, seine Lunge habe sich nicht mehr erholt, nachdem er vom Krieg nach Hause zurückgekehrt war. Dabei musste er erst spät einrücken und in den letzten Kriegsmonaten die Eisenbahn in Franzensfeste bewachen. Er verkühlte sich, wie es sich für einen Bauern gehört, bei der Feldarbeit. Was mussten sich die Kühe auch über den Roggenacker hermachen? An diesem regnerischen Tag ging er als Sieger vom Feld, aber seine Lunge erholte sich nie mehr so ganz. Das Rauchen hat er sich trotzdem nie abgewöhnt. Ich weiß nicht warum, aber das habe ich immer sehr sympathisch gefunden. Eines der wenigen Bilder, die es von ihm gibt, zeigt ihn in der getäfelten Holzstube, eine selbst gedrehte Zigarette in der Hand.

Einmal brachte mein Großvater ein großes Stück in Butterpapier gewickeltes Mandorlatt vom Stegener Markt mit nach Hause. So nannte man die köstliche Süßigkeit mit Nüssen im Prettauer Dialekt. Riesig war sie wohl vor allem in den Augen meines damals noch kleinen Vaters und in der Speisekammer gehütet wie ein Schatz. Dieser Mandorlatt, so erzählte es mein Vater oft und ließ dabei die Konsonanten schwingen, sei so herrlich auf der Zunge zerschmolzen, dass er sich bis heute daran erinnern könne. Ich liebte die Geschichte und konnte sie nicht oft genug hören. Heute glaube ich fast selbst, damals um den hölzernen Stubentisch gesessen und um ein weiteres Stück gebettelt zu haben. Ein Bitten und Betteln war das, und alles nur wegen dieses immer kleiner werdenden Mandorlatts. So oft fragten die Kinder, dass meine Großmutter irgendwann in die Labe ging, die Tür zum Godn, der Speisekammer, öffnete, den ganzen Torrone holte, auf den Tisch stellte und sagte: Esst ihn, dann ist wieder Ruh.

Ich sehe meine Großmutter vor mir, wie sie mich auf der Alm heimlich aus der Pfanne kosten ließ und wir in Klosterfrau Melissengeist getränkte Zuckerwürfel aßen. Ihr vom Wetter gezeichnetes Gesicht mit den immerroten Wangen, die trotz allem weichen Hände. Die Blumen, die sie mit einer Messerspitze in die frisch geschlagene Butter zeichnete. Als Kind habe ich das nicht verstanden, aber ich habe es immer gespürt. Sie hat die Kunst, im Moment zu leben, wirklich beherrscht.

Was ist ein gelungenes Leben, frage ich mich. Vielleicht hat es etwas mit dem kleinen Glück zu tun. Manchmal reicht dazu auch nur ein Stück Mandorlatt.

Weiter
Weiter

Am Freitag kam Corona