Am Freitag kam Corona

Es ist Donnerstag, der 12. November im Rote-Zone-Gebiet Südtirol. Wie fühlt sich das an?

Als ich Hans das letzte Mal gesehen habe, saß er im Wohnzimmer in seinem Stuhl mit dem ausklappbaren Teil zum Hochlegen der Beine. Gegenüber der Fernseher, den er immer zur gleichen Zeit einschaltete. Quizsendungen, um im Kopf fit zu bleiben. Die Nachrichten, um zu wissen, was draußen passiert. Neben dem Stuhl der Beistelltisch mit der Fernsehzeitschrift und den Krimis. Es gibt kaum einen Krimiautor, den Hans nicht kannte. Blutig musste es nicht sein, wenn er sich nach Washington las oder in den kühlen Norden, aber spannend und unvorhersehbar, das gerne. Wobei er nicht bis zum Ende lesen musste, um zu wissen, wer der Mörder ist.

Krimi lesen, Karten spielen, Mittagessen um Punkt 12, am Nachmittag ein Schläfchen, sonntags mit einem der wenigen Freunde, die noch nicht vorausgestorben sind, ein Stück spazieren gehen und sich an die Hochtouren von früher erinnern. Ein Gläschen Wein zum Essen, das gönnte er sich jeden Tag. Wenn die Kiste mit den leeren Flaschen vor der Haustür stand, wusste jeder im Haus, was zu tun war.

Ich weiß noch genau, wie Hans mich mit ins Meraner Freischwimmbad genommen hat. Ich zehn Jahre alt und noch nie auf einem Sprungbrett gestanden, er Schwimmer durch und durch, der auch mit seinen damals 60 Jahren täglich seine Bahnen zog. Als Hans mich seinen Schwimmbadfreunden vorstellte und ich in meinem Sandner Dialekt alle geradeheraus und selbstverständlich duzte, da musste er zuerst ein wenig schlucken und dann lachen. Er war halt ein bisschen alte Schule, und als waschechter Meraner die Pusterer-Griesdi-Welt so gar nicht gewöhnt.

Ich habe Hans nur als Pensionisten kennengelernt. Sein ganzes Arbeitsleben bei der Bank kenne ich nur aus Erzählungen. Genau wie den schwersten Einschnitt seines Lebens, den frühen Tod von Sohn Michi, der über den Wechsel der Jahre hindurch eine dumpfe Traurigkeit hinterließ, die blieb. Als kleines Mädchen schon habe ich die Bilder von Michi angeschaut, die auf der Ablage im Wohnzimmer standen, und ihn mir vorzustellen versucht. Bei jedem Besuch vergewisserte ich mich, dass sie unverrückbar an derselben Stelle standen.

Im Juni wurde Hans 90, und als ich ihm zehn weitere Jahre wünschte, da lachte er und sagte: Nein, Verenele, das wohl nicht. Zehn Jahre, das war vielleicht ein bisschen viel gedacht. Aber ein paar gute noch, das ja.

Am Freitag kam Corona. Die Fahrt ins Krankenhaus. Wieder zurück nach Hause, der Platz schon eher knapp. Nach zwei Tagen ging es nicht mehr, und er wurde aufgenommen. Ich hoffe, er weiß, dass wir gekommen wären. Aber das ging nicht.

„Wie alt sind denn bitte die Menschen, die gerade wegen Corona behandelt werden?”, lese ich in einem Internetkommentar.

Im Buchregal liegen drei Krimis, die ich Hans beim nächsten Mal mitnehmen wollte. Wenn ich aus dem dunklen Flur ins Wohnzimmer gehe, wird Licht auf seinen Sessel fallen, durch den Vorhang hindurch. Und neben Michis Bild ein neues Foto stehen.

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Mandorlatt oder vom kleinen Glück

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Du fehlst, Zerina.